Kurzgeschichte: Das Faschingsgespenst
Das Faschingsgespenst
von Manfred Orlick
Kinderfasching. Schon seit Tagen gab es in Julia’s Klasse kein anderes Thema. In den Pausen und in den Schulstunden wurde darüber erzählt und getuschelt. Alle waren an der Vorbereitung beteiligt. Bernd sollte Papierschlangen und Luftballons mitbringen, Katrin und Manuela waren für die Pfannkuchen verantwortlich. Andere sollten sich Spiele ausdenken. Julia wollte ein paar Zauberkunststücke vorführen.
„Aber ihr dürft nicht verraten, in welchem Kostüm jeder kommt”, mahnte Frau Berger, die Klassenlehrerin, „das soll die größte Überraschung werden.” Und obwohl es den meisten Kindern schwer fiel, über ihr Faschingskostüm zu schweigen, behielt jeder sein Geheimnis für sich.
Endlich war es soweit. Mit Girlanden, Papierschlangen und Luftballons wurde das Klassenzimmer in ein buntes Zirkuszelt verwandelt. Zuerst machten sich die Kinder über die große Schüssel mit den Pfannkuchen her. Besonders der dicke Martin drängelte sich dabei nach vorn. Nur Julia hatte keinen Appetit, denn sie war sehr aufgeregt, ob ihre Zauberkunststücke auch klappen würden.
„Deine Tricks kennen wir alle schon”, sagte Bernd. Julia widersprach heftig: „Das sind alles neue Kunststücke.”
„Du kannst ja gar nicht zaubern. Das ist alles nur Schwindel”, prustete Martin und leckte sich die Marmelade von den Fingern. „Kinder, hört mal”, versuchte Frau Berger, Ruhe in den Kinderhaufen zu bringen. „Wir wollen jetzt die Kostüme erraten.”
„O ja!”, riefen einige Mädchen, während Martin meinte: „Langweilig und kinderleicht.” Jetzt wurde Frau Berger lauter: „Nun stellt euch im Kreis auf”, rief sie und zog Martin am Arm beiseite.
Alle stellten sich im Klassenraum in einem Kreis auf und jedes Kind trat in den Kreis und die anderen riefen oder brüllten, welches Kostüm jeder trug. Julia hatte einen Zaubermantel um, Bernd mit einer schwarzen Augenklappe war ein Seeräuber und Bärbel eine Prinzessin. „Die Krone ist ja nicht echt”, plärrte Martin wieder vorlaut.
„Und was soll dein Kostüm darstellen”, sagte Frau Berger und schubste Martin in den Kreis. Da stand er nun mit Jeans, kariertem Hemd und einem Stück Wäscheleine in der Hand. Alle schauten sich verdutzt an, bis Bernd sagte: „Soll das etwa ein Cowboy sein?” Die Kinder lachten laut.
„Natürlich”, wurde Martin trotzig, „und das hier ist mein Lasso”, wobei er die Leine durch die Luft wirbelte. „Ein bisschen mehr Mühe hättest du dir schon geben können”, meinte schließlich Frau Berger und das Kostümeraten ging weiter.
Doreen war als Mäuschen verkleidet und Klaus war ein Doktor mit einem weißen Kittel, dazu trug er eine schlaue Brille. Andreas hatte einen schwarzen Zylinder auf dem Kopf, seine Hose und die Jacke waren ebenfalls schwarz und auch sein Gesicht war schwarz angemalt. „Das ist leicht, ein Schornsteinfeger”, riefen alle.
„Jetzt haben wir alle erraten. Aber was haben wir hier?”, fragte Frau Berger und zeigte auf eine kleine Gestalt mit einem riesengroßen weißen Tuch über dem Kopf. „Huch, ein Gespenst”, riefen alle und klatschten in die Hände. „Ja, das sehe ich, doch wer steckt darunter, hat jemand seinen Bruder oder die Schwester mitgebracht?”
„Das werden wir sehen”, drängelte sich Martin vor und zog kräftig an dem großen Bettlaken. „Hui, hui!”, rief das kleine Gespenst und hüpfte in die Luft. Martin wurde ganz kreidebleich: „Das ist ja echt.”
„Quatsch”, meinte Frau Berger und zupfte selbst vorsichtig an dem weißen Laken. „Hui, hui!”, klang es wieder unter dem Tuch hervor und das Gespenst schwebte zur Klassentür hinaus.
„Ein echtes Gespenst”, rief Bernd, „wir müssen es fangen.” Er zog seinen Seeräubersäbel und stürmte dem Gespenst nach.
„Ja, hinterher!” Martin schwang sein Lasso durch die Luft. Nun rannten auch die anderen den beiden nach und zum Schluss Frau Berger.
So ging es den Hausflur entlang. Das Gespenst flog voran und die aufgeregte Kinderschar hinterher. Die Schultreppe hinunter. Martin rutschte das Geländer hinab, aber das kleine Gespenst war schneller.
Im 1. Stock kam gerade der Direktor Schneider aus seinem Zimmer und rief: „Was ist das für ein Lärm?” Doch die Kinder rannten ihn fast um. „Ein Gespenst, ein Gespenst in unserer Schule”, riefen alle und stürmten weiter.
„Unsinn, so ein Unsinn”, sagte der Direktor und hielt die arme Frau Berger am Arm fest. „Was soll das? Was ist mit ihrer Klasse los?” „Herr Direktor, ein wahrhaftiges Gespenst! Ich kann es selbst nicht fassen”, stotterte die Lehrerin. „Das kann ich nicht glauben”, sagte Direktor Schneider. Aber er eilte mit der Lehrerin den Schülern nach.
Das Gespenst floh in den dunklen Kellergang und ehe Bernd den Lichtschalter gefunden hatte, war es spurlos verschwunden. „Es muss sich hier versteckt haben”, schnaufte Martin. „Aber wo”, sagten Julia und die anderen gleichzeitig.
Nun kamen auch der Direktor Schneider und Frau Berger in den Keller: „Na, wo ist euer Gespenst?” „Es muss durch diese Tür sein”, sagte Bernd bestimmt und zeigte mit seinem Säbel auf eine schwere Eisentür.
„Unsinn, die Tür ist verschlossen.” „Gespenster können durch Wände und Türen gehen”, wusste es Martin aber besser.
„Leise!” Bernd legte den Finger auf die Lippen: „Ich höre etwas hinter der Tür.”
„Unsinn, das ist der Heizungskeller.” Doch Herr Schneider legte vorsichtig sein Ohr an die große Tür. „Motorengeräusch, weiter nichts.”
„Hören Sie, Herr Direktor”, ließ Bernd nicht locker – und hinter der Tür war wirklich ein deutliches und lautes „Hui, hui!” zu hören. Gleich riefen alle wieder „Ein Gespenst! Ein Gespenst!” durcheinander.
„Frau Berger, holen sie bitte den Hausmeister, damit der Unsinn endlich ein Ende hat””, sagte jetzt der Direktor. Ein paar Minuten später kam die Lehrerin mit dem Hausmeister, der sein großes Schlüsselbund mitgebracht hatte. „Öffnen Sie den Heizungskeller”, befahl der Direktor.
Hui, hui, klang es wieder ganz dumpf hinter der Tür. Es dauerte eine Weile bis der Hausmeister den richtigen Schlüssel an seinem großen Bund gefunden hatte. Vorsichtig öffnete er die schwere Tür, die dabei laut quietschte, dass alle in dem Kellergang heftig erschraken.
Mutig ging Herr Schneider voran in den dunklen Heizungskeller und machte zuerst das Licht an. „Nun zeigt mir einmal euer Gespenst, nichts zu sehen.”
Langsam kamen die anderen alle nach und schauten sich in dem dunklen Heizungskeller um. Aber nirgends war auch nur die kleinste Spur von einem Gespenst zu entdecken. „Hier in der Ecke liegen ein paar alte Sachen, vielleicht ist das euer Gespenst”, lachte der Direktor und trat mit dem Schuh nach dem Haufen Lumpen. Es war tatsächlich kein Gespenst zu sehen.
„Und das Geräusch?”, gaben Bernd und Martin zu bedenken. „Vielleicht der Wind, das Kellerfenster steht offen”, hatte der Direktor eine Antwort dafür. „Jetzt ab in die Klasse. Ich will davon nichts mehr hören!”
Traurig gingen sie alle in ihren Klassenraum und feierten weiter Fasching. Trotz lustiger Spiele wollte aber keine große Freude mehr aufkommen. Sie mussten immer an ihren unbekannten Gast denken.
Als sie die Schule verließen, schauten sie noch einmal vom Schulhof aus durch das Kellerfenster in den Heizungsraum. Aber in dem finsteren Raum konnten sie keine weiße Gestalt erkennen. Nur ein leises „Hui, hui!” war in der Dunkelheit zu hören.