Kurzgeschichte: Das Überraschungsgeschenk
Das Überraschungsgeschenk
von Manfred Orlick
Den ganzen Tag hatte es geregnet, nur ab und zu schaute die Sonne hinter den grauen Wolken hervor. Es war hässliches Aprilwetter. Trotzdem fuhren Julia und Peter mit ihren Fahrrädern zum See.
„Bei dem Wetter, zum See?”, hatte Julia erstaunt gefragt, als Peter mit dem Fahrrad vor ihrer Haustür stand.
„Es ist wichtig!”, hatte Peter gesagt, „ich will sehen, ob die jungen Enten schon geschlüpft sind. Gestern saßen die Alten noch auf ihrem Nest im Schilf.”
„Na gut”, hatte Julia gemeint und ihr Fahrrad aus dem Keller geholt. Mit Peter gab es immer etwas Interessantes zu entdecken. Er war ein richtiger Naturfreund, er kannte die meisten Vögel, konnte sie sogar an ihrem Gesang erkennen. Und im Winter konnte er die Tierspuren im Schnee lesen.
Als sie mit ihren Fahrrädern aus dem Wald herauskamen, blies ihnen der Wind tüchtig ins Gesicht. Tiefgebückt über seinen Lenker, fuhr Peter voran und rief: „Wir sind bald da. Hinter der nächsten Kurve beginnt schon der See.”
„Ja, ja!”, antwortete Julia, obwohl sie nicht verstanden hatte, was Peter gerufen hatte. So kräftig blies der Sturm und rüttelte an den Bäumen.
„Julia, pass auf, hier liegt Glas auf dem Weg”, sagte Peter und hielt an. Bald wäre Julia auf ihn aufgefahren, doch sie konnte noch rechtzeitig bremsen. „Sieh dir das an!”, meinte Peter und schüttelte den Kopf. „Wer wirft denn Flaschen und Gläser in den Wald?”, schimpfte Julia.
Sie schoben ihre Fahrräder bis zum See, wo der Sturm große Wellen auf das steinige Ufer trieb. Peter holte sein kleines Fernglas aus der Jackentasche hervor und suchte damit das dichte Schilf am anderen Ufer ab. „Ich kann nichts erkennen”, meinte er schließlich, „das Schilf wackelt zu sehr im Wind. Da muss ich morgen noch einmal herkommen.”
„Lass uns nach Hause fahren, es fängt wieder zu regnen an”, bat Julia. Sie fror in ihrer dünnen Jacke.
Sie schoben ihre Räder die Uferböschung hinauf, da rief Julia: „Halt, Peter, sieh nur dort!” Hinter einem großen Holunderbusch entdeckten sie einen großen Haufen Unrat. Alte Töpfe, eine kaputte Matratze, Autoreifen und ein verrostetes Bettgestell.
„Ist das nicht Martin’s altes Fahrrad?” Peter wühlte ein rotes Fahrrad, das ganz verschmutzt war, aus dem Haufen hervor.
„Natürlich!”, sagte Julia, „da die vielen Abziehbilder auf dem Rahmen. Das ist Martin’s Fahrrad.”
„Weihnachten hat er ein neues Rennrad bekommen und jetzt liegt sein altes Rad einfach hier im Wald herum”, empörte sich Peter und warf das Rad wieder auf den Boden.
„Nächsten Sonntag sind wir zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen, da werden wir es allen erzählen”, sagte Julia. „Ich hab eine andere Idee!”, lachte Peter und stieg auf sein Fahrrad.
„Erzähl schon!” „Morgen hole ich mit meinem Vater das alte Fahrrad.” „Und?”, machte Julia ganz neugierige Augen. „Erzähl ich dir zu Hause. Lass uns fahren, der Regen wird immer stärker.”
Am nächsten Sonntag waren alle Freunde zu Martins Geburtstag eingeladen. Torsten, Katrin, Bernd, Michael und natürlich auch Julia und Peter. Es war ein warmer und sonniger Tag. Endlich war es Frühling geworden und so konnten sie im Garten spielen.
Martin interessierte sich natürlich am meisten für die Geschenke, die seine Gäste mitgebracht hatten. Neugierig riss er die Päckchen und Schachteln auf. Torsten hatte ein spannendes Buch ausgesucht und Katrin eine große Packung Faserstifte. Bernd hatte selbst ein Vogelhäuschen gebastelt.
Als Julia und Peter die Gartenstraße entlang kamen, rannten alle an den Zaun und riefen: „Was habt ihr denn? Sieht ja ulkig aus.” „Großes Geheimnis”, sagten die beiden.
„Ist doch kein Geheimnis, sieht ja jeder, dass es ein Fahrrad ist”, meinte Martin, „ich hab Weihnachten erst ein neues Rad bekommen.” „Das hier ist aber ein Superfahrrad, du wirst staunen”, witzelte Peter.
Alle guckten verdutzt, was Peter vor sich her schob. Es war ein Fahrrad, das sah man. Aber es war vollständig mit buntem Papier eingewickelt, der Lenker, die Räder, die Pedalen, einfach alles. Überall hingen bunte Schleifen.
Neugierig riss Martin das Papier und die Schleifen herunter. „Das ist ja mein altes Fahrrad”, sagte er ganz verdutzt und wurde kreidebleich. Er wollte noch etwas sagen, aber dann klappte er den Mund ganz schnell zu. Jetzt sahen die anderen auch die Überraschung und krümmten sich vor Lachen.
„Wo habt ihr das denn her?”, knurrte Martin schließlich beleidigt. „Wir haben es gefunden”, sagte Peter. „Und sollen wir verraten, wo?”, fragte Julia listig.
Martin bekam einen knallroten Kopf und stotterte nur: „Nein, nein, ich weiß Bescheid.”