Kurzgeschichte: Pfannkuchen-Autos
Pfannkuchen-Autos
von Manfred Orlick
Timon ist traurig. Seine Oma liegt seit zwei Wochen im Krankenhaus, und in ein paar Tagen ist Weihnachten. Weihnachten ohne Oma, das wäre wirklich traurig.
Die Ärzte sagen, vielleicht ist sie bald wieder daheim. Es geht ihr schon viel besser. Lange kann es nicht mehr dauern, dann wird sie entlassen. „Heute fahren wir ins Krankenhaus”, sagt Mama. „Vor Weihnachten gibt es zwar viel zu tun, aber Oma wird schon warten.”
Timon weiß nicht so recht, was er will, denn er ist mit Martin und Frank auf dem Rodelberg verabredet. Aber Oma wird sich über den Besuch freuen. Schließlich fährt er mit Mutti bei dem Schneegestöber zum Krankenhaus. Vater kommt erst spät von der Arbeit.
Oma freut sich, als die Tür aufgeht und Timon und Mutti vor ihrem Bett stehen. Der Tag ist langweilig im Krankenhaus. Jetzt kann sie sich mit Timon unterhalten und Neuigkeiten erfahren.
„Wie war es in der Schule? Wie geht es Onkel Paul?” Oma will alles wissen. Aber auch Mutti ist neugierig: „Wie geht es dir? Wann kommst du nach Hause? Was sagen die Ärzte?”
Zwischendurch schaut sie immer heimlich auf die Uhr. Mit ihren Gedanken ist sie schon in der Kaufhalle.
Timon ist es heute im Krankenhaus langweilig. Er kennt das Zimmer genau, die Schränke und Bilder. Auch die anderen Omas im Zimmer. Andauernd geht er zum Fenster. Der Flockenwirbel ist dichter geworden. Die Häuser auf der anderen Straßenseite kann man kaum noch erkennen.
Jetzt steht Onkel Paul in der Tür, eingeschneit wie ein Schneemann. Nun beginnt die Fragerei wieder von vorn. Timon steht unruhig am Fenster, draußen wird es langsam dämmrig. Die Schneeflocken werden immer größer.
„Seht nur”, sagt Oma, „bei dem Unwetter könnt ihr noch etwas bleiben.”
Der Schneesturm hört erst in einer Stunde auf. Als Timon, Mutti und Onkel Paul auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus kommen, sind alle Autos unter einer dicken Schneedecke verschwunden. Der Parkplatz sieht aus wie ein riesiges Kuchenblech mit dick gezuckerten Pfannkuchen.
„Das hier muss unser Auto sein”, ist sich Mutti sicher. Onkel Paul und Timon schieben mit den Händen den Schnee von dem Auto. Nach ein paar Minuten sagt Timon: „Nein, wir haben kein rotes Auto.”
„Dann ist es dieses hier”, zeigt Mutti auf den nächsten Auto-Pfannkuchen und fängst selbst an zu schieben und zu kratzen. „Ja, der ist blau”, frohlockt sie. Jetzt helfen auch Onkel Paul und Timon mit. Bald sind sie ganz außer Puste und haben eisige Hände.
„Danke”, sagt ein Mann, der dem Treiben schon eine Weile zusah, „das ist nämlich mein Auto.”
Mutter ist ganz verzweifelt. Jetzt weiß sie wirklich nicht, wo unser Auto ist. Es wird immer dunkler, im Licht der Straßenlaternen sehen alle Pfannkuchen-Autos gleich aus. Plötzlich kommt Vater angelaufen. „Konnte ich mir doch denken, dass ihr bei Oma im Krankenhaus seid. Nur gut, dass ich gleich einen Kehrbesen mitgebracht habe.”
Noch vier Autos müssen sie frei schaufeln, ehe sie schließlich ihr Auto gefunden haben. „Das war doch ein aufregender Wintertag”, sagt Timon, als ihn Mutti abends müde ins Bett bringt.