Deutscher Jugendliteratur-Preis 2017
Auf der Frankfurter Buchmesse wurden die Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2017 gekürt. Eine neunköpfige Kritikerjury vergab die Auszeichnung in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch. Außerdem wurde erstmals der Sonderpreis „Neue Talente” verliehen – und Gudrun Pausewang erhielt den Preis für ihr Lebenswerk. Eine unabhängige Jugendjury kürte darüber hinaus einen weiteren Gewinner. Das sind die Sieger:
Bilderbuch – Hier kommt keiner durch! (ab 4 Jahren)
Von: Isabel Minhós Martins (Text) und Bernardo P. Carvalho (Illustration), übersetzt von Franziska Hauffe; Klett Kinderbuch Verlag
Jurybegründung: „Das Medium Buch wird Teil der Geschichte, die Mitte der Doppelseite zur unsichtbaren Grenze, die nicht überschritten werden darf. Ein Aufpasser hindert die immer bunter werdende Menge, von der linken auf die rechte Buchseite zu wechseln, die blütenweiß und leer bleibt. Den Grund für seine Aufgabe hinterfragt er nicht, er führt sie gewissenhaft aus, auch als er von den Menschen mit immer drängenderen Fragen nach dem Sinn des Ganzen konfrontiert wird. Schließlich löst sich ein Ball aus der Menge, hopst nach rechts, und da gibt es kein Halten mehr: Die ganze Schar stürmt hinterher.
Die konzeptionelle Idee dieses stringent strukturierten Bilderbuchs ist mit einfachen bildnerischen Mitteln umgesetzt. Die Filzstiftzeichnungen geben ihm eine aus dem Rahmen fallende Ästhetik. Text gibt es in diesem Buch kaum; das wenige, das gesprochen wird, steht in farbigen Sprechblasen. Dafür verstecken sich in dem Gewimmel umso mehr Erzählanlässe. Denn das, was auf den ersten Blick ungeordnet wirkt, folgt einer eigenen Logik. Jede der 62 Figuren erhält einen eigenen Charakter und erzählt eine eigene Geschichte. Das Thema des Buches, der Umgang mit Autoritäten, ist universell und umfasst das Verhalten auf dem Schulhof ebenso wie politische Dimensionen. Diese Zusammenhänge greift das Buch auf witzige und ungewöhnliche Weise auf.”
Kinderbuch – Sally Jones. Mord ohne Leiche (ab 9 Jahren)
Von: Jakob Wegelius (Text, Illustration), übersetzt von Gabriele Haefs; Gerstenberg Verlag
Jurybegründung: „Sally Jones vereint die Lieblingsgenres von Kindern zu einem überzeugenden Kunstwerk: In einer Mischung aus Abenteuerroman, Krimi und Tiergeschichte schickt Wegelius seine Heldin, die maschinenbegeisterte Gorilladame Sally Jones, von Lissabon bis nach Indien. Sie will dabei die Unschuld ihres Chiefs Henry Koskela beweisen, der zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Erzählt wird aus der Perspektive Sallys, die eine eigenständige Sicht auf die Welt entwickelt – eine, die der von Kindern ähnlich ist und dadurch zur Identifikation einlädt.
Der Roman spielt Anfang des 20. Jahrhunderts und entwirft ein grandioses Panorama abenteuerlicher Orte, interessanter Figuren und spannender Handlungen. Durch die ebenfalls von Wegelius angefertigten ganzseitigen Zeichnungen der Protagonisten auf den ersten Seiten des Textes und die Darstellung der Reiseroute und zentraler Orte auf dem Vorsatzpapier gewinnt der Leser einen visuellen Eindruck von den unterschiedlichen Erzählelementen des Romans. Das ist Abenteuerliteratur in der Tradition von Jules Verne und Alexandre Dumas, die nicht nur zahlreiche Spannungsepisoden aufweist, sondern auch einen eigenständigen Weltentwurf liefert, der bei der Darstellung fremder Kulturen nicht in Klischees abdriftet. So vermittelt der Text auf unterhaltsame Weise Wissen über Geschichte und Kultur Portugals und Indiens. Hierzu trägt die gelungene Übersetzung von Gabriele Haefs wesentlich bei.”
Jugendbuch – Der Geruch von Häusern anderer Leute (ab 15 Jahren)
Von: Bonnie-Sue Hitchcock (Text), übersetzt von von Sonja Finck; Königskinder Verlag
Jurybegründung: „Die Autorin führt ins Alaska der 1960er- und 1970er-Jahre, in eine Zeit, in der sich das Land durch die Ernennung zum 49. Bundesstaat der USA in einer politischen, sozialen und kulturellen Umbruchsituation befindet. Emotionale Veränderungen erleben auch die vier jugendlichen Protagonisten, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird. Sie müssen ihren Platz innerhalb einer Gesellschaft zwischen Traditionsbewusstsein und Aufbruchsstimmung finden.
Hitchcock schreibt in ihrem biografisch inspirierten Debüt über einen Kulturkreis, der in der Jugendliteratur bislang kaum behandelt wurde. Die fein gesponnenen Erzählstränge ziehen sich durch die karge Kälte Alaskas, durchqueren die Häuser der Bewohner der Region und werden kunstvoll zusammengeführt. Die Qualität dieses außergewöhnlichen und von Sonja Finck hervorragend übersetzten Romans besteht darin, die Atmosphäre, den Duft und das Lokalkolorit Alaskas in einen sprachlichen Ton zu überführen, der sofort fesselt. Die Autorin überzeugt mit der sensiblen Zeichnung ihrer jungen Protagonisten, deren Innenleben in den Landschaftsschilderungen einen symbolischen Ausdruck findet. Es gelingt Hitchcock, aus den Erfahrungen, Nöten und Träumen einer Generation ein Gesellschaftsbild von poetischer Kraft und zeitloser Aktualität zu zeichnen. Der sprachmächtige Jugendroman verbindet die Schilderung eines entfernten Kulturraums mit universellen Fragen des Erwachsenwerdens.”
Sachbuch – Bienen (ab 6 Jahren)
Von: Piotr Socha (Text, Illustration), übersetzt von Thomas Weiler; Gerstenberg Verlag
Jurybegründung: „Mit diesem Sachbilderbuch setzt der polnische Cartoonist Piotr Socha, selbst Sohn eines Imkers, diesen kleinen, aber überaus nützlichen Insekten ein literarisches Denkmal. Außergewöhnlich ist nicht nur das große Format, sondern auch die Vielfalt der behandelten Themen und die humorvolle Gestaltung der 32 doppelseitigen Bildtafeln, die am unteren Bildrand kurze Texte enthalten. Zusätzlich zu den Informationen über zoologische Themen wie Körperbau, Fortpflanzung, Verhalten und Bestäubung bietet das Bilderbuch einen Einblick in die Kulturgeschichte der Bienen und der Imkerei.
Wer weiß schon, dass bereits die alten Ägypter Bienen verehrt haben? Oder dass Napoleon die Krönungsmäntel für sich und seine Frau mit goldenen Bienen besticken ließ? Welche Folgen das massive Bienensterben für den Menschen haben kann und worin seine möglichen Ursachen liegen, bleibt nicht ausgespart.
Zwei als ‚Bienenblättchen’ bezeichnete fiktive Zeitungsseiten sind eine Fundgrube für kuriose Informationen. Der Band ist komplett durchkomponiert – vom Vorsatz im stilisierten Bienenmuster über die teils karikierend vereinfachenden, teils anatomisch korrekt ausgeführten Illustrationen bis zum poetischen Text, dessen satirischer Unterton auch in der Übersetzung von Thomas Weiler erhalten bleibt. Bienen ist eine überaus vergnügliche Enzyklopädie für die ganze Familie, die ein interessantes Thema wissenschaftlich, kulturgeschichtlich und künstlerisch aufgreift.”
Preis der Jugendjury – Nur drei Worte (ab 14 Jahren)
Von: Becky Albertalli (Text), übersetzt von Ingo Herzke; Carlsen Verlag
Jurybegründung: „Warum ist ‚normal’ eigentlich weiß, hetero, christlich? Das fragen sich Simon und seine Internetbekanntschaft Blue. Simon ist homosexuell. Das ist gesetzt. Wie mag sein Umfeld mit einem Outing umgehen? Und was ist mit der Welt überhaupt los, in der man sich outen muss, nur weil man homosexuell ist? Simon erzählt nachdenklich und schneidet viele Themen wie Sexualität, Herkunft, Identität, Religion und Freundschaft an.
Die E‑Mails zwischen ihm und Blue greifen diese auf und setzen sich doch ganz anders damit auseinander. Anonymität, dann Freundschaft und Liebe ermöglichen einen unverstellten, in jedem Fall humorreichen Schlagabtausch. Problembuch? Nein, aber auch. Liebesgeschichte? Ja, aber nicht nur. Je nach Interesse ist ein Lesen auf verschiedenen Ebenen möglich. Das Buch macht Spaß, vor allem durch die Referenzen zur Jugendkultur, wie die Liebe zu Harry Potter, die Nutzung von Tumblr und die Serien-Fandoms.
Die Autorin schafft es, mit psychologischem Feingefühl und Witz Identitätsfindung zu schildern und Normalität zu hinterfragen.
In (zweimal) nur drei Worten: Was ist normal? Alles und nichts!”
Sonderpreis junge Talente – Lizzy Carbon und der Klub der Verlierer (ab 12 Jahren)
Von: Mario Fesler (Text); Magellan Verlag
Jurybegründung: „In fast jeder Schulklasse gibt es die Außenseiter, mit denen keiner etwas zu tun haben will. Wie Popelino, bei dem der Name Programm ist. Wie die dicke Ma Baker, von der kaum einer den richtigen Namen kennt. Oder wie die unscheinbare Sara, die nie mitfeiern darf, weil das den Zeugen Jehovas verboten ist. Aus diesen Figuren und ihrer Ausgangslage hätte Mario Fesler ein moralinsaures Mobbingdrama machen können. Daraus geworden ist jedoch eine temporeiche, witzige, überraschende und in ihrer Ernsthaftigkeit genau dosierte Erzählung.
Es reicht eine einzige unbedachte Äußerung von Ich-Erzählerin Lizzy, schon hat sie diese traurige und von allen anderen Schülern belächelte Projektgruppe am Hals. Was wird der Klub der Verlierer bis zum Schulfest auf die Beine stellen? Ein Wettlauf gegen die Zeit und die eigenen Vorurteile beginnt, bis zum großen Ereignis. In allerbester Manier englischer Vorreiterinnen wie Anne Fine gelingt Mario Fesler eine originelle Schul- und Freundschaftsgeschichte, die sich keine Schwächen und Längen erlaubt. Selbst die eingeschobenen Tagebucheinträge leisten dazu ihren eigenen erzählerischen Beitrag. Mit seinem Gefühl für treffsichere Dialoge und der Sympathie für seine Figuren ist Mario Fesler ein besonderes neues Talent und eine Bereicherung für die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur.”
Sonderpreis für die Autorin Gudrun Pausewang
Gudrun Pausewang, geboren 1928 in Wichstadtl (Ostböhmen) als Ältestes von sechs Kindern. Nach der Flucht nach Westdeutschland und einem Studium am pädagogischen Institut in Weilburg an der Lahn arbeitete sie bis zu ihrer Pensionierung 1989 als Grund- und Hauptschullehrerin in Deutschland, Chile, Venezuela und Kolumbien. Aus eigener Erfahrung und Betroffenheit schöpfend begann sie ab 1958 zu schreiben – zunächst für Erwachsene – und engagiert sich in ihren über 100 Büchern für den Frieden, die Umwelt und soziale Gerechtigkeit. Ein wichtiges Thema ist ihr die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Dritten Reich. Sie promovierte 1998 am Institut für Jugendbuchforschung in Frankfurt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet, 1988 unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis für „Die Wolke”.
(14. Oktober 2017)