Kurzgeschichte: Der blaue Vogel
Der blaue Vogel
von Manfred Orlick
Den ganzen Vormittag saß der Junge an dem großen Esstisch im Wohnzimmer. Der Tisch war übersät mit Buntstiften und Faserschreibern. Er malte ein Bild nach dem anderen. Keine zehn Minuten und eine Zeichnung war fertig, dann stand er auf, ging an den Schrank und zog aus der Schublade ein neues Blatt weißes Papier.
„Jeden Tag brauchst du einen Zeichenblock”, murrte der Vater. Er saß schon am Sonntagmorgen vor dem Fernseher. Sport interessierte ihn, jede Sportart, zu jeder Tageszeit. Egal ob Fußball, Tennis oder Skispringen, das gerade im Fernsehen übertragen wurde.
„Papa, ich brauch‘ ein großes Stück Papier”, sagte der Junge plötzlich und sah, wie der Vater von seinem Sessel halb aufsprang. In diesem Moment hatte einer der Springer einen neuen Schanzenrekord erzielt. „Großartig, sieh nur, hundertundzwanzig Meter’, freute er sich und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche.
„Papa, ein großes Papier“, blieb der Junge hartnäckig.
„Du hast doch genug, der ganze Tisch liegt voll.” Im Fernsehen ging jetzt der größte Rivale des neuen Spitzenreiters über die Schanze.
„Ein großes Blatt!” Der Junge trommelte mit seinen Farbstiften auf die Tischplatte.
„Du mit deiner ewigen Malerei, nimm ein kleines Blatt”, wurde der Vater ärgerlich, „wozu
brauchst du unbedingt ein großes Blatt?”
„Ich will was ganz besonderes malen!”
„Halt endlich Ruhe!” Mit der Fernbedienung stellte er den Fernsehton lauter.
„Was habt ihr beiden?”, fragte die Mutter, die den Streit bis in die Küche gehört hatte.
„Ich will ein großes Papier”, wiederholte der Junge und machte auf dem Tisch schon genügend Platz für die neue Zeichnung.
„Warte, ich hol dir ein großes Zeichenblatt.” Sie verschwand im Schlafzimmer. „Na, ist das groß genug?” Sie legte ein großes, weißes Blatt auf den Tisch, der Junge musste noch mehr Farbstifte beiseite räumen.
„Immer bekommt er seinen Willen!”
„Geh mit ihm Schlitten fahren!”
„Jetzt ist Skispringen, heut‘ Nachmittag vielleicht.”
„Denk dran, um elf wollen wir zu Lehmanns, die neue Küche ansehen.”
„Nicht bevor das Springen zu Ende ist.”
„Später geht nicht, dann ist Mittagszeit.”
„Noch zwölf Springer.”
„Du und dein Sport und dein Fernsehen.”
„Und du hast nur deine neue Küche im Kopf, weil Lehmanns neue Küchenmöbel haben, musst du gleich hinrennen.”
„Ginge es nach dir, würden wir die alten Möbel noch zehn Jahre behalten”, winkte die Frau ab.
Der Junge hatte mit seiner großen Zeichnung begonnen.
„Was malst du denn?”, fragte die Mutter beiläufig, als sie wieder in der Küche verschwand.
„Einen Vogel!” Der Junge hatte sich auf den Stuhl gekniet, damit er in alle Ecken des großen Blattes mit seinen kurzen Armen und den Farbstiften reichte.
„Einen Vogel? Und dazu brauchst du ein großes Papier? Verschwendung!”
Das Skispringen ging in seine entscheidende Phase, der Vater hörte nicht, ob der Junge widersprochen hatte. Es war ein spannender Wettkampf, mit fast jedem Sprung wurden bessere Weiten erreicht und der Spitzenreiter wechselte ständig. Unruhig rutschte der Vater auf dem Sessel umher, vor Aufregung vergaß er sogar die Bierflasche.
Nach einigen Minuten stand die Mutter wieder im Wohnzimmer: „Können wir gehen?”
„Der letzte Springer noch”, fluchte der Vater.
„Jetzt entscheidet sich die Medaillenvergabe”, schrie der Fernsehreporter fast euphorisch, während der Springer jäh von einer Windböe erfasst wurde.
„Nein, nicht, sieh nur, gestürzt”, rief der Vater verzweifelt und sprang nun von seinem Sessel auf.
„Lass uns gehen.”
„Hast du das gesehen, die Goldmedaille schon fast sicher, nun alles futsch.”
„Wir können nicht noch länger warten, ich hab Lehmanns versprochen, dass wir pünktlich sind.”
„Ja, du und deine Küche!”
„Hast du den Zollstock? Wenn ich nicht an alles denke!”
Der Vater verschwand im Abstellraum, wo er seine Werkzeugkiste hatte.
„Was soll denn das sein”, fragte die Mutter und blickte verwundert auf die große Zeichnung auf dem Tisch.
„Ein Vogel!”
„Ein blauer Vogel?!” Auf dem Blatt war mit krakeligen blauen Strichen etwas gemalt, das einem Vogel mit übergroßen Flügeln ähnlich sah. Selbst der Schnabel und die Krallen, alles war blau.
„Das ist ein Traumvogel.”
„So ein Unsinn”, kam der Vater zurück, „wo ist der Schnabel?”
„Hier“, tippte der Junge wütend auf die krumme Spitze am Kopf des Vogels.
„Und dort auf dem Rücken, was ist das? Sieht aus wie ein buckliger Zwerg!”
„Das bin ich”, sagte der Junge beleidigt und verdeckte mit seinem schmalen Oberkörper die Zeichnung.
„Hast du schon mal einen blauen Vogel gesehen. So ein Quatsch”, wiederholte der Vater. Bockig schlug der Junge mit den Armen um sich, ein paar Tränen waren auf die Zeichnung gefallen und hatten Flecken auf dem blauen Federkleid des Traumvogels gegeben.
„Lass ihn, er hat eben mehr Phantasie als du”, beruhigte die Mutter die beiden Streithähne. Mit Stolz strich sie dem Jungen behutsam über die Haare. „Wir sind zehn Minuten bei Lehmanns. Mal dein Bild fertig, dann sind wir wieder zurück.”
„So eine Spinnerei”, schimpfte der Vater weiter, doch die Mutter schob ihn durch die Tür.
Der Besuch bei den Nachbarn dauerte länger. Die neuen Küchenmöbel hatten der Mutter sehr gefallen, der Vater musste alles genau ausmessen und die Maße notieren. Nach einer reichlichen halben Stunde, es war längst Zeit für die Zubereitung des Mittagessen, waren sie wieder in der eigenen Wohnung. Die Mutter schaute im Wohnzimmer sofort nach dem Jungen, doch der saß nicht mehr am Esstisch. Sie sah in alle anderen Zimmer und rief seinen Namen. „Sicher ist er unten auf der Straße”, versuchte der Vater die Mutter zu beruhigen.
„Die Straßenschuhe stehen im Flur“, schluchzte die Mutter.
„Bleib ruhig, er wird schon irgendwo stecken.”
Sie standen beide im Wohnzimmer und starrten auf den großen Tisch. Die Farbschreiber und Bleistifte lagen verstreut herum. Dazwischen das große Blatt Papier. Es war weiß und leer, nur die Wasserflecken waren zu sehen. Der blaue Vogel mit dem buckligen Zwerg auf dem Rücken war verschwunden.