Kurzgeschichte: Der blaue Vogel

Kurzgeschichte: Der blaue Vogel

Herz­li­chen Dank für das Bild an Irene2005

Der blaue Vogel

von Man­fred Orlick

Den gan­zen Vor­mit­tag saß der Junge an dem gro­ßen Ess­tisch im Wohn­zim­mer. Der Tisch war über­sät mit Bunt­stif­ten und Faser­schrei­bern. Er malte ein Bild nach dem ande­ren. Keine zehn Minu­ten und eine Zeich­nung war fer­tig, dann stand er auf, ging an den Schrank und zog aus der Schub­lade ein neues Blatt wei­ßes Papier.

Jeden Tag brauchst du einen Zei­chen­block”, murrte der Vater. Er saß schon am Sonn­tag­mor­gen vor dem Fern­se­her. Sport inter­es­sierte ihn, jede Sport­art, zu jeder Tages­zeit. Egal ob Fuß­ball, Ten­nis oder Ski­sprin­gen, das gerade im Fern­se­hen über­tra­gen wurde.
„Papa, ich brauch‘ ein gro­ßes Stück Papier”, sagte der Junge plötz­lich und sah, wie der Vater von sei­nem Ses­sel halb auf­sprang. In die­sem Moment hatte einer der Sprin­ger einen neuen Schan­zen­re­kord erzielt. „Groß­ar­tig, sieh nur, hun­dert­und­zwan­zig Meter’, freute er sich und nahm einen Schluck aus sei­ner Bierflasche.
„Papa, ein gro­ßes Papier“, blieb der Junge hartnäckig.
„Du hast doch genug, der ganze Tisch liegt voll.” Im Fern­se­hen ging jetzt der größte Rivale des neuen Spit­zen­rei­ters über die Schanze.
„Ein gro­ßes Blatt!” Der Junge trom­melte mit sei­nen Farb­stif­ten auf die Tischplatte.
„Du mit dei­ner ewi­gen Male­rei, nimm ein klei­nes Blatt”, wurde der Vater ärger­lich, „wozu
brauchst du unbe­dingt ein gro­ßes Blatt?”
„Ich will was ganz beson­de­res malen!”
„Halt end­lich Ruhe!” Mit der Fern­be­die­nung stellte er den Fern­seh­ton lauter.

Was habt ihr bei­den?”, fragte die Mut­ter, die den Streit bis in die Küche gehört hatte.
„Ich will ein gro­ßes Papier”, wie­der­holte der Junge und machte auf dem Tisch schon genü­gend Platz für die neue Zeichnung.
„Warte, ich hol dir ein gro­ßes Zei­chen­blatt.” Sie ver­schwand im Schlaf­zim­mer. „Na, ist das groß genug?” Sie legte ein gro­ßes, wei­ßes Blatt auf den Tisch, der Junge musste noch mehr Farb­stifte bei­seite räumen.

Immer bekommt er sei­nen Willen!”
„Geh mit ihm Schlit­ten fahren!”
„Jetzt ist Ski­sprin­gen, heut‘ Nach­mit­tag vielleicht.”
„Denk dran, um elf wol­len wir zu Leh­manns, die neue Küche ansehen.”
„Nicht bevor das Sprin­gen zu Ende ist.”
„Spä­ter geht nicht, dann ist Mittagszeit.”
„Noch zwölf Springer.”
„Du und dein Sport und dein Fernsehen.”
„Und du hast nur deine neue Küche im Kopf, weil Leh­manns neue Küchen­mö­bel haben, musst du gleich hinrennen.”
„Ginge es nach dir, wür­den wir die alten Möbel noch zehn Jahre behal­ten”, winkte die Frau ab.

Der Junge hatte mit sei­ner gro­ßen Zeich­nung begonnen.
„Was malst du denn?”, fragte die Mut­ter bei­läu­fig, als sie wie­der in der Küche verschwand.
„Einen Vogel!” Der Junge hatte sich auf den Stuhl gekniet, damit er in alle Ecken des gro­ßen Blat­tes mit sei­nen kur­zen Armen und den Farb­stif­ten reichte.
„Einen Vogel? Und dazu brauchst du ein gro­ßes Papier? Verschwendung!”

Das Ski­sprin­gen ging in seine ent­schei­dende Phase, der Vater hörte nicht, ob der Junge wider­spro­chen hatte. Es war ein span­nen­der Wett­kampf, mit fast jedem Sprung wur­den bes­sere Wei­ten erreicht und der Spit­zen­rei­ter wech­selte stän­dig. Unru­hig rutschte der Vater auf dem Ses­sel umher, vor Auf­re­gung ver­gaß er sogar die Bierflasche.

Nach eini­gen Minu­ten stand die Mut­ter wie­der im Wohn­zim­mer: „Kön­nen wir gehen?”
„Der letzte Sprin­ger noch”, fluchte der Vater.
„Jetzt ent­schei­det sich die Medail­len­ver­gabe”, schrie der Fern­seh­re­por­ter fast eupho­risch, wäh­rend der Sprin­ger jäh von einer Wind­böe erfasst wurde.
„Nein, nicht, sieh nur, gestürzt”, rief der Vater ver­zwei­felt und sprang nun von sei­nem Ses­sel auf.
„Lass uns gehen.”
„Hast du das gese­hen, die Gold­me­daille schon fast sicher, nun alles futsch.”
„Wir kön­nen nicht noch län­ger war­ten, ich hab Leh­manns ver­spro­chen, dass wir pünkt­lich sind.”
„Ja, du und deine Küche!”
„Hast du den Zoll­stock? Wenn ich nicht an alles denke!”
Der Vater ver­schwand im Abstell­raum, wo er seine Werk­zeug­kiste hatte.
„Was soll denn das sein”, fragte die Mut­ter und blickte ver­wun­dert auf die große Zeich­nung auf dem Tisch.
„Ein Vogel!”
„Ein blauer Vogel?!” Auf dem Blatt war mit kra­ke­li­gen blauen Stri­chen etwas gemalt, das einem Vogel mit über­gro­ßen Flü­geln ähn­lich sah. Selbst der Schna­bel und die Kral­len, alles war blau.
„Das ist ein Traumvogel.”

So ein Unsinn”, kam der Vater zurück, „wo ist der Schnabel?”
„Hier“, tippte der Junge wütend auf die krumme Spitze am Kopf des Vogels.
„Und dort auf dem Rücken, was ist das? Sieht aus wie ein buck­li­ger Zwerg!”
„Das bin ich”, sagte der Junge belei­digt und ver­deckte mit sei­nem schma­len Ober­kör­per die Zeichnung.
„Hast du schon mal einen blauen Vogel gese­hen. So ein Quatsch”, wie­der­holte der Vater. Bockig schlug der Junge mit den Armen um sich, ein paar Trä­nen waren auf die Zeich­nung gefal­len und hat­ten Fle­cken auf dem blauen Feder­kleid des Traum­vo­gels gegeben.
„Lass ihn, er hat eben mehr Phan­ta­sie als du”, beru­higte die Mut­ter die bei­den Streit­hähne. Mit Stolz strich sie dem Jun­gen behut­sam über die Haare. „Wir sind zehn Minu­ten bei Leh­manns. Mal dein Bild fer­tig, dann sind wir wie­der zurück.”
„So eine Spin­ne­rei”, schimpfte der Vater wei­ter, doch die Mut­ter schob ihn durch die Tür.

Der Besuch bei den Nach­barn dau­erte län­ger. Die neuen Küchen­mö­bel hat­ten der Mut­ter sehr gefal­len, der Vater musste alles genau aus­mes­sen und die Maße notie­ren. Nach einer reich­li­chen hal­ben Stunde, es war längst Zeit für die Zube­rei­tung des Mit­tag­essen, waren sie wie­der in der eige­nen Woh­nung. Die Mut­ter schaute im Wohn­zim­mer sofort nach dem Jun­gen, doch der saß nicht mehr am Ess­tisch. Sie sah in alle ande­ren Zim­mer und rief sei­nen Namen. „Sicher ist er unten auf der Straße”, ver­suchte der Vater die Mut­ter zu beruhigen.
„Die Stra­ßen­schuhe ste­hen im Flur“, schluchzte die Mutter.
„Bleib ruhig, er wird schon irgendwo stecken.”

Sie stan­den beide im Wohn­zim­mer und starr­ten auf den gro­ßen Tisch. Die Farb­schrei­ber und Blei­stifte lagen ver­streut herum. Dazwi­schen das große Blatt Papier. Es war weiß und leer, nur die Was­ser­fle­cken waren zu sehen. Der blaue Vogel mit dem buck­li­gen Zwerg auf dem Rücken war verschwunden.