Kurzgeschichte: Drachensteigen
Achtung, es gibt was Neues: Ab heute erscheinen bei uns auch Kurzgeschichten für Kinder!
Unser Rezensent Manfred Orlick schreibt nämlich seit seiner Jugend. Erst für sich, dann für seine Kinder und Enkelkinder, jetzt für uns alle. 2011 ist von ihm ein Band zum Thema „Fahrrad” erschienen. Aber er widmet sich natürlich auch ganz anderen Dingen. Welche das sind, erfahrt Ihr in Zukunft immer an dieser Stelle.
Drachensteigen
von Manfred Orlick
Die Mutter kommt gerade vom Einkauf zurück, als Torsten und Klaus ihren großen Papierdrachen aus der Garage holen.
„Heute weht doch kein Lüftchen. Seht nur, die Blätter an den Bäumen bewegen sich ü‑berhaupt nicht”, sagt die Mutter.
„Oben am Waldrand ist es immer windig”, weiß es Torsten besser.
„Na meinetwegen, aber nehmt euch etwas zum Essen mit”, sagt die Mutter und gibt ihnen eine Tüte mit Kuchen.
Der Drachen ist größer als Torsten. Auf dem gelben Papier ist ein rotes Clownsgesicht aufgemalt. Außerdem hat er einen langen Schwanz mit vielen Papierknäueln.
Erst am Sonntagnachmittag hatte der Vater den Drachen mit Torsten gebaut. Das war eine knifflige Angelegenheit gewesen, die bis zum Abend gedauert hatte. So war keine Zeit mehr für einen ersten Flugversuch geblieben.
Behutsam tragen Torsten und Klaus das papierne Ungetüm durch den Garten. Es ist wirk-lich ganz windstill. Trotzdem gehen beide zu dem kleinen bewaldeten Hügel außerhalb des Dorfes. Klaus schiebt sein Fahrrad und Torsten trägt vorsichtig den bunten Drachen. Er muss aufpassen, dass er nicht auf den langen Schwanz tritt.
Bald sind sie auf der Wiese unterhalb des Waldes angelangt. Aber auch hier ist kein Lüft-chen zu spüren. Selbst die trockenen Grashalme bewegen sich kaum und die Baumkro-nen der hohen Fichten stehen unbeweglich stramm.
„Einer von uns beiden muss den Drachen hoch in die Luft halten und der andere rennt mit ihm an der Schnur schnell den Berg hinunter”, schlägt Klaus vor, der sein Fahrrad ins Gras gelegt hat.
„Ich werde den Drachen halten”, meint Torsten. Er stellt sich ganz oben an den Waldrand und hält den bunten Drachen in die Höhe. Klaus nimmt die Schnurrolle und wickelt einige Meter Faden ab. Dann ruft Torsten „Los!” und gibt dem Drachen noch einen Schubs nach oben. In diesem Moment läuft Klaus mit dem Drachen an der Schnur den Hügel hinunter.
Und tatsächlich – der Drachen steigt ein paar Meter auf und wiegt sich sacht in der Luft. Doch sobald Klaus mit rennen aufhört, sinkt er langsam zu Boden.
„Du musst schneller laufen”, fordert Torsten, nachdem sie beide den Drachen wieder den Berg hinauf getragen haben. Jetzt rennt Klaus viel schneller und der Drachen steigt wirk-lich höher in die Luft. Plötzlich stolpert Klaus über einen Stein und die Schnurrolle fällt ihm aus der Hand.
Kurz danach landet auch der Drachen mit seinem roten Clownsgesicht auf der Wiese. Es scheint, als lache er die beiden Jungen aus.
„Jetzt renne ich”, schlägt Torsten vor, „vielleicht haben wir dann mehr Glück.” Doch so sehr sich die beiden auch anstrengen, der Drachen will nicht in der Luft bleiben.
„Es müsste noch viel schneller gehen, dann bleibt er bestimmt oben”, sagt Torsten ganz außer Atem.
„Wir könnten den Drachen an meinem Fahrrad anbinden und ich fahre damit bis zum Dorf hinunter”, schlägt Klaus vor.
„Das ist eine prima Idee!”, strahlt Torsten.
Sie wickeln noch einige Meter Schnur von der Rolle und binden den Drachen am Gepäck-träger fest.
Klaus steigt auf sein Fahrrad und Torsten geht mit dem Drachen zurück, bis die Schnur straff ist. Dann hält er ihn wieder in die Luft und ruft „Fertig los!”.
Kräftig tritt Klaus in die Pedalen und rast den Berg hinunter. Und wirklich der Drachen steigt und steigt, bald ist er so hoch wie die Bäume des Waldes. Torsten macht vor Freude ein paar Purzelbäume den Berg hinunter.
Klaus kann sich nicht umdrehen, er muss auf den steinigen Weg achten. Erst am Bach bleibt er stehen und sieht den bunten Drachen in der Luft schaukeln. Der lange Schwanz hängt träge nach unten und da fängt der Drachen auch wieder an zu sinken.
„Fahr, fahr, Klaus, bis zum Dorf hinunter”, ruft Torsten laut und winkt wild mit den Armen. Klaus radelt den Feldweg weiter und Torsten läuft hinterdrein. Die Schnur strafft sich und der Drachen gewinnt wieder an Höhe.
Bald hat Klaus die Dorfstraße erreicht, da kann er noch schneller fahren. Plötzlich gibt es einen Ruck, die Schnur ist gerissen. Der Drachen hat sich in den oberen Zweigen einer Pappel, die am Sportplatz stehen, verfangen.
Da hängt er hoch oben über der Straße, unerreichbar für Klaus und Torsten. Traurig zie-hen beide nach Hause.
Am Abend schimpft der Vater außerdem: „Alle Arbeit umsonst, das hast du nun von deiner Ungeduld. Wie kann man auch bei solch einer Windstille Drachen steigen lassen.”
Torsten wagt nicht, den Vater zu fragen, ob sie am nächsten Wochenende einen neuen Drachen bauen. Wortlos und traurig geht er in sein Zimmer.
Jeden Morgen, wenn Torsten und Klaus zur Schule gehen, sehen sie den Drachen hoch oben in der Pappel hängen. Der lacht über der Straße mit seinem breiten Clownsgesicht.