Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt
„Unter den Tausenden von Kindern, die jeden Tag geboren werden, ist mindestens eins, das sich als Träumer entpuppt. Am 5. Mai lag ein solches Kind in Zimmer 37E im Krankenhaus von Rosewood und sein Name lautete Archer Benjamin Helmsley.”
Mit diesen Sätzen beginnt Nicholas Gannons vielgelobter Debutroman „Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt”, und anders als der vielleicht etwas irreführende deutsche Titel gibt diese Einleitung schon eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was den Leser erwartet: wunderbare Formulierungen, ausschweifende Exkurse, erfrischende Gedanken und zwar vielleicht keine große Reise, jedenfalls aber den nicht minder fesselnden Traum davon.
Archer Helmsley ist der elfjährige Enkelsohn von berühmten Forschungsreisenden, sein Elternhaus ist vollgestopft mit den Mitbringseln aus fernen Ländern. Der Entdeckergeist steckt auch in ihm, allerdings darf er ihn nicht ausleben. Seit die Großeltern von einer Antarktis-Expedition nicht zurückkehrten (möglicherweise sind sie auf einem Eisberg festgefroren oder auch von Pinguinen gefressen worden), lässt seine Mutter Archer nicht mehr aus dem Haus. Nicht, dass er auch noch auf einem Eisberg davon treibt! Bei seinen „Neigungen” weiß man ja nie. Aber wie, bitte, soll man Abenteuer erleben, wenn man nicht einmal alleine in den Park darf?
Archers „Reise” beginnt daher zunächst bei ihm selbst – und verharrt dort auch recht lange. Er redet mit den ausgestopften Tieren im Haus, liest phantastische Bücher (von Gullivers Reisen bis zur Schatzinsel) und träumt. Erst als er zwei Kinder aus der Nachbarschaft zu seinen Komplizen macht, werden aus den Tagträumereien ganz allmählich Pläne.
Aber wie wenig geeignet die zunächst noch sind, um tatsächlich das große Abenteuer zu erleben! Ein Fischmobile auf dem Kopf simuliert die Tiefsee, Hosentaschen voller Vogelfutter sollen Riesenadler anlocken, mit Eiswürfeln bereiten sich die Freunde auf die Antarktis vor.
„Wenn ich die Augen zumache, fühlt es sich an, als würde ich schneller laufen”, sagt Archers Freund Oliver an einer Stelle und fasst damit ganz gut die Diskrepanz zwischen den hochtrabenden Plänen und den kläglichen Versuchen der Umsetzung zusammen. Die Reisevorbereitungen treten auf der Stelle, gelingen kann der Aufbruch nur in der Phantasie. Der Originaltitel des Buches („The Doldrums” – „Die Flaute”) ist daher auch treffender als die deutsche Versprechung einer „Reise zum Ende der Welt”.
Feine Pointen, ausgefallene Sprachbilder, wunderbar altmodisch anmutende Illustrationen (vom Autor selbst angefertigt) und reichlich amüsante Episoden entschädigen allerdings allemal dafür, dass das große Abenteuer fern der Heimat das gesamte Buch hindurch nur Verheißung bleibt. Auch zuhause passiert schließlich Außergewöhnliches. „Der letzte Rest Hoffnung von Archer, in den Sommerferien etwas anderes zu sehen als das Innere vom Haus der Helmsleys, raste mit ins Krankenhaus”, heißt es, nachdem der Dinnerbesuch von Archers neuer Lehrerin in einem furiosen Desaster endete. „Aber im Gegensatz zu Mrs Murkley würde seine Hoffnung die Nacht nicht überleben.”
„Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt” ist von Beginn an ein großes Lesevergnügen, auch wenn es handfest spannend erst ganz am Ende wird. Die Fortsetzung „Die höchst eigenartige Verschwörung von Barrow’s Bay” („The Doldrums and the Helmsley Curse”) ist für den Herbst 2017 angekündigt.
Von: Nicholas Gannon, übersetzt von Harriet Fricke
Verlag: Coppenrath
Roman für Kinder ab 10 Jahren
ISBN: 978–3649619420
Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
Format: 14,7 x 3,5 x 21,6 cm