Die Sternennacht
Jedes Bild ist ein kleines Kunstwerk, das man stundenlang betrachten könnte. Jedes einzelne für sich! Und das Buch ist so voll davon. Noch eine Seite und noch eine Seite und noch eine. Es ist ein Bilderbuch nicht für die ganz Kleinen, sondern für die größeren, die immer noch empfänglich sind für eine bildreiche und oft rätselhafte Welt.
In Jimmy Liaos üppiger „Sternennacht” steckt vielleicht mehr drin, als man zu begreifen in der Lage ist. Kleine Elefanten, die ins Unermessliche wachsen. Bunte Irrgärten aus Blumen und Beton. Haifische in der Suppe. Schulbusse, die am Himmel durch die Dämmerung jagen. Drachenschwänze in bedrohlichen Häuserschluchten. Und die Bilder von Magritte und Vincent van Gogh.
Alles ist voller Anspielungen, Metaphern und Allegorien – und auch die großen Fragen fehlen nicht: „Hättest du Angst, wenn wir beide die letzten Menschen auf dieser Welt wären?”
Wie der Alltag doch überall kleine Wunder bereithält, wen man bereit ist, zu fühlen. Man muss ja gar nicht alles verstehen. Es reicht, sich treiben, Bilder und Worte wirken zu lassen. „Allen Kindern gewidmet, die der Welt fremd gegenüberstehen”, heißt es vorab.
Eigentlich ist die Geschichte ganz einfach: Einsames Mädchen trifft einsamen Jungen. Beide haben reichlich nachvollziehbare Sorgen. Mobbende Klassenkameraden zum Beispiel, streitende oder abwesende Eltern, aus Umzügen resultierende Fremdheitsgefühle.
Liao breitet die Geschichte facettenreich aus, jeder Aspekt bekommt starke Bildstrecken. Jahrelang arbeitete Liao daran, wie er in einem Beitrag für den Blog „Picturebook Makers” erklärt.
Langsam formte sich eine logische Geschichte zu dem Motiv, das er als Ausgangspunkt wählte, nachdem er in den Nachrichten von zwei Schülern gehört hatte, die von zu Hause fortgelaufen waren. „Sie hatten am Tag Spaß miteinander, schliefen nachts in Schuppen, Schulen und Tempeln”, schreibt Liao.
„Die Eltern alarmierten die Polizei, und die Kinder wurden ein paar Tage später geschnappt und nach Hause gebracht. Die Eltern machten sich gegenseitig wütende Vorwürfe. Aber die Kinder sagten, sie hätten nichts Falsches getan; sie genossen einfach nur die Gegenwart des anderen und reisten ganz unschuldig an den Strand und in die Berge. Als ich davon las, rührte es mich. Würden diese leuchtenden, hellen und kristallinen Tage für die beiden nicht die unvergesslichste Zeit ihres Lebens werden?”
Im Buch zeigt der Junge dem Mädchen erst seine geheimen Orte. Das ist noch nicht der große Ausbruch, sondern es sind eher kleine Fluchten. Zum Beispiel zum Laden an der Ecke, wo im Aquarium die bunten Fische schwimmen, denen der Junge allen Namen gegeben hat. Die Mitschüler tuscheln schon, aber das ist egal. In aller Melancholie kann das Leben auch mal schön sein.
Am Schönsten ist es allerdings dort, wo die Sterne leuchten, fernab der Großstadt. Und so lautet die Zäsur in der Mitte des Buches, als es zwischen den engen Häusern wieder einmal besonders schlimm ist: „Bloß weg von hier! Wir verlassen die Stadt.” Das Mädchen reist mit dem Jungen an den Ort der frühen Kindheit. In die Berge, zu den schönen Erinnerungen. Dorthin, wo sich früher Oma und Opa um sie gekümmert haben. Inzwischen sind die Großeltern beide tot, die Sehnsucht übermächtig.
Seitenlang braucht das Glück danach kein Wort. Liao reiht nur Bild an Bild. Es wird die schönste Sternennacht aller Zeiten. Aber damit hat der Zauber dieses kunstvollen, poetischen Buches für größere Kinder und kleinere Erwachsene noch lange kein Ende.
Von: Jimmy Liao, übersetzt von Marc Hermann
Verlag: Chinabooks
Bilderbuch ab 12 Jahren
ISBN: 978–3905816693
Taschenbuch: 70 Seiten
Format: 18,9 x 1,7 x 26,1 cm