Leinen los, Seeräuber-Moses
Geschlechterdifferenzierte Produkte sind gerade in Mode wie lange nicht. Ob Mädchen und Jungs wirklich so unterschiedlich ticken, sei einmal dahin gestellt. Tatsache ist, dass der derzeitige Trend, Schrott einmal in Blau und einmal in Rosa herzustellen, gewaltig nervt. Leider ist auch der Buchmarkt vor solchen scheinbar zielgruppenorientierten Marketing-Konzepten nicht gefeit. Für die Jungen gibt es dann Seeräuber-Geschichten und für die Mädchen irgendwas mit Prinzessinnen. Die Qualität der Erzählung, auf die es doch eigentlich ankommen sollte, spielt dabei plötzlich gar nicht mehr so eine große Rolle.
Zum Glück ist da noch Kirsten Boie! Die zeigt, was wir zwar schon seit Ronja Räubertochter oder Pippi Langstrumpf wissen, aber immer wieder gerne bewiesen bekommen: nämlich dass eine gute Abenteuer-Geschichte allemal mehr wert ist als irgendwas eilig nach Marketingkriterien Zusammengedengeltes.
In „Leinen los, Seeräuber-Moses” gibt es Piraten UND Prinzessinnen – in einer fein ausgedachten und fulminant erzählten Geschichte. Dazu ungehobelte und ungewaschene Westsee-Häuptlinge, Hochstaplerinnen, dicke Oberhofzeremonienmeister und Eltern, die gleichzeitig Könige sind. Das geht, man ahnt es schon, auch nicht ganz ohne Klischees ab. Aber Boie baut sie vor allem ein, um Schabernack mit ihnen zu treiben – und das macht Spaß. Die Hauptfigur Moses-Isadora ist als Kind bei Piraten aufgewachsen. Zu Beginn des Buches ist sie aber gerade bei Hof angekommen, wo sie von König und Königin als ihre verloren gegangene Tochter identifiziert wird. Da Sticken und Knicksen nicht so ihrs ist, stellt sich das neue Leben allerdings schwieriger dar, als gedacht.
Elterliche Erwartungen an das eigene Verhalten – das kennen wohl alle Kinder. Insofern bietet Moses reichlich Identifikationspotenzial. Eine gute Geschichte ist „Leinen los, Seeräuber-Moses” aber vor allem, weil Moses spannende Abenteuer erlebt, in irre komische Situationen gerät, weil die Seeräuber so schön fluchen können („Du Dösbaddel! Was bist du auf einmal brägenklöterig!”) und weil das ganze so herrlich verzwickt ist. Denn so sicher, wie anfangs alle waren, dass Moses die Prinzessin und damit die rechtmäßige Eigentümerin des Blutroten Blutrubins ist – so sicher ist das alles nämlich dann doch nicht.
Was man von Kirsten Boie aus ihren anderen Büchern schon kennt, sind die langen, verschachtelten Sätze, die aber überhaupt nicht schwer zu lesen sind, sondern für eine flüssige Sprachmelodie sorgen bzw. für den Sound eines echten Erzähl-Erlebnisses von Angesicht zu Angesicht: „Damals in den wilden Seeräuberzeiten hatten sie auch bei Hofe noch keine richtig guten Tischmanieren, auch wenn es mir ein bisschen peinlich ist, das sagen zu müssen; und darum sprachen sogar die Königin und der König mit vollem Mund, und ab und zu rülpsten sie zwischendurch sogar mal kurz. Ja, das ist keine schöne Vorstellung. Aber für Moses war es doch eigentlich nur gut, denn sie musste als Prinzessin ja sowieso schon genug Neues lernen, musst du bedenken, da war es doch ein Glück, dass sie sich wenigstens nicht auch noch um Tischmanieren kümmern musste.”
„Leinen los, Seeräuber-Moses” ist übrigens die Fortsetzung von „Seeräuber-Moses” (2009). Die Geschichte schließt nahtlos an den Vorgänger-Roman an, lässt sich aber auch prima ohne Vorkenntnisse lesen. Oder auch vorlesen: Denn so schön die Sätze sind, Erstleser stolpern eben doch noch ganz gerne über ihre schiere Länge. Sehr zu empfehlen ist aus diesen Gründen auch das Hörbuch. Auch wenn einem dann die zahlreichen, lustigen Illustrationen von Barbara Scholz entgehen, die das Buch schmücken.
Von: Kirsten Boie
Verlag: Oetinger
Kinderbuch ab 6 Jahren
ISBN: 978–3789120206
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Format: 17,5 x 3 x 24,2 cm
gesprochen von Karl Menrad
Audio CD
Anzahl Discs: 5
Label: Jumbo Neue Medien (DA Music)