Martha
Eigentlich kann man sich das gar nicht vorstellen. Es gab einmal so viele Wandertauben auf der Welt, dass ihre Schwärme den Himmel Nordamerikas verdunkelten. Tagelang zogen sie vorüber. Ein einziger Schwarm im Jahr 1866 wurde auf drei Milliarden Tiere geschätzt.
Und dann waren sie weg, binnen weniger Jahrzehnte ausgerottet. Die letzte Wandertaube starb 1914 im Zoo von Cincinnati. Man hatte sie „Martha” getauft – und sie wurde ein Symbol für die Brutalität, mit der der weiße Mann sich die ganze Welt Untertan macht.
Der Künstler Atak hat Martha und den Wandertauben ein Bilderbuch gewidmet. Es ist für Kinder ab sechs Jahren, aber man sollte sie mit dieser Geschichte besser nicht allein lassen. Nicht weil Kinder die Wahrheit nicht verkraften könnten und überfordert wären mit den Abgründen, die sich da auftun. Sondern im Gegenteil – weil diese Geschichte so unglaublich ist, dass es jemanden braucht, der sagt: Nein, das ist kein böses Märchen, das ist die traurige Wirklichkeit. Und hoffentlich lernen wir aus ihr.
Atak benötigt nicht viele Worte. Wenige Sätze und ebenso mächtige wie bunte Bilder reichen ihm, um das Drama zu illustrieren. Farben knallen, Formen sprechen. Auf einer Seite – Atak kommt vom Comic – explodiert ein einziger Gewehrschuss. Wenn man umblättert, schaut Martha den Betrachter mit großen Augen aus ihrem Käfig heraus an. Ergreifend schön, die letzte ihrer Art. Allein unter lauter Menschen, die sie begaffen. Das trifft mitten ins Herz.
Mal mag man Ataks Malerei „naiv” nennen, dann offenbart die scheinbare Einfachheit seiner Bilder aber wieder einen solchen Andeutungsreichtum und eine enorme Vielschichtigkeit, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Man kann es kaum anders sagen: Dieses Buch ist verstörend gut.
Von: Atak
Verlag: Aladin
Bilderbuch ab 6 Jahren
ISBN: 978–3848900770
Gebundene Ausgabe: 32 Seiten
Format: 28 x 1,2 x 30,6 cm