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Der Kamishibai-Mann

Als der Künst­ler Allen Say* als Junge in Japan auf­wuchs, erlebte die Kamis­hi­bai-Kunst gerade ihre Blü­te­zeit. Vie­len Japa­nern ging es wirt­schaft­lich schlecht, aber wer gut malen und Geschich­ten erzäh­len konnte, ver­mochte so sei­nen Lebens­un­ter­halt zu ver­die­nen. Mit aufs Fahr­rad geschnall­ten Minia­tur-Büh­nen zogen im gan­zen Land tau­sende Kamis­hi­bai-Erzäh­ler von Ort zu Ort, gaben ihre Geschich­ten zum Bes­ten und zeig­ten zu den Sze­nen pas­sende Bil­der. Dazu ver­kauf­ten sie Süßigkeiten.

Die­ses Papier­thea­ter war bei Kin­dern und Erwach­se­nen so sehr beliebt, dass man das in den 1950er Jah­ren auf­kom­mende Fern­se­hen zunächst „denki kamis­hi­bai” nannte – „elek­tri­sches Kamis­hi­bai”. Aber dann ver­drängte das Fern­se­hen die Kamis­hi­bai-Erzäh­ler immer mehr, und heute sind sie von den Stra­ßen fast voll­stän­dig verschwunden.

Hier setzt Allen Says wun­der­schön melan­cho­li­sches Bil­der­buch ein. Einen alten Erzäh­ler packt noch ein­mal die Sehn­sucht, er macht sich mit sei­nem Rad für eine letzte Tour auf in die Stadt. Aber wie sich alles ver­än­dert hat! Hoch­häu­ser, über­all Autos, Hek­tik – all das ist dem alten Mann fremd. Auf einem von Says berüh­rend genauen Bil­dern sieht man ihn, wie er sich gebückt und klein im Bild­vor­der­grund abstram­pelt. Hin­ten ragt die rie­sige Stadt auf. Ein Last­wa­gen­fah­rer gibt hupend zu ver­ste­hen: Ver­schwinde von der Straße! Du gehörst hier nicht hin! 

Der Kamis­hi­bai-Mann fin­det ein trost­lo­ses Plätz­chen, ohne Publi­kum beginnt er zu erzäh­len. Es ist seine eigene Geschichte, die er vor­trägt. Wäh­rend Say pas­send zur Rück­schau den Illus­tra­ti­ons­stil ändert und etwas ein­fa­cher hält, berich­tet der Kamis­hi­bai-Mann, wie die Kin­der ihm frü­her an den Lip­pen hin­gen bis sie ihm irgend­wann den Mund ver­bo­ten, weil er sie beim Fern­se­hen störte. 

An die­ser Stelle könnte das Buch leicht abglei­ten, ent­we­der furcht­bar depri­mie­rend oder see­lig-sen­ti­men­tal wer­den, weil am Ende ja doch noch alles gut wird. Als der Kamis­hi­bai-Mann endet, hat sich um ihn herum eine Men­schen­traube gebil­det. Es sind die Kin­der von frü­her, die heute erwach­sen sind und vor lau­ter nost­al­gi­schem Glück strahlen.

Aber Say schafft es, ein ver­söhn­li­ches Ende ohne jeden Kitsch zu fin­den, dafür mit fei­nem Witz, Selbst­iro­nie und Gelas­sen­heit. Eine Bil­der­buch-Perle nicht nur für Kinder!

* Allen Say wurde 1937 in Yoko­hama gebo­ren und zog mit 16 Jah­ren in die USA. Dort ist er heute ein gefei­er­ter und viel­fach aus­ge­zeich­ne­ter Kin­der­buch-Star. Gerade erst wurde er vom „Eric Carle Museum” für sein Lebens­werk geehrt. Hier­zu­lande ist er weni­ger bekannt, es erschien gerade ein­mal eine Hand­voll sei­ner Bücher auf Deutsch. Zwei von ihnen hat dan­kens­wer­ter­weise der kleine Ver­lag „Edi­tion Bracklo” her­aus­ge­bracht. „Der Kamis­hi­bai-Mann”, im end­len Lei­nen­ein­band erschie­nen, ist eines davon. 


Von: Allen Say, mit einem Nach­wort von Tara McGo­wan, über­setzt von Gabriela Bracklo
Ver­lag: Edi­tion Bracklo
Gebun­dene Aus­gabe: 40 Seiten
Kin­der­buch ab 3 Jahren
ISBN: 978–3981506679
For­mat: 24,3 x 1 x 27,9 cm 

 

Categories: ab 3 Jahren
Matti Hartmann: Matti Hartmann ist im Hauptberuf freier Journalist und nebenher Vater von drei Kindern. Oder andersherum. Außerdem Bücherfreund. Und weil sich das alles prima unter einen Hut bringen lässt, wenn man eine Kinderbuchseite betreibt, macht er genau das auch noch.
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