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Peter Pan

Was „Peter Pan”, „Die Schöne und das Biest” und „Das Dschun­gel­buch” gemein haben? Es sind mär­chen­hafte Klas­si­ker der Kin­der- und Jugend­li­te­ra­tur. Alle drei wur­den von Dis­ney so erfolg­reich ver­filmt, dass die Trick­film-Ver­sio­nen den Bekannt­heits­grad der Ori­gi­nale inzwi­schen weit über­flü­geln. Und darum sind heute viele fel­sen­fest davon über­zeugt, sie wür­den die Geschich­ten ken­nen, obwohl sie doch bloß die Filme gese­hen haben.

Ihnen könnte der Cop­pen­rath-Ver­lag nun ein ordent­li­ches Aha-Erleb­nis ver­schaf­fen, denn ab März 2017 ver­öf­fent­licht er die drei Ori­gi­nal-Bücher in den auf­wen­dig gestal­te­ten Fas­sun­gen des Lon­do­ner Gra­fik­de­sign­stu­dios Mina­Lima auf Deutsch. Da wird so man­cher Bücher­freund trotz gepfef­fer­ter Preise nur schwer wider­ste­hen kön­nen, so berau­schend schön und opu­lent ist die Aus­stat­tung. Schon die edlen Illus­tra­tio­nen und die Gold­prä­gung der Cover machen die Schmuck­aus­ga­ben zu klei­nen Schät­zen. Dar­über hin­aus hat Mina­Lima auch noch zahl­rei­che Extras in den Büchern ver­steckt. In der „Peter Pan”-Ausgabe fin­den sich zum Bei­spiel auf­klapp­bare Kar­ten, eine Kro­ko­dil-Uhr, Bas­tel-Sets und eine Zeitungsseite.

Für die, die (wie auch ich) bis­her nur die Dis­ney-Ver­sion von „Peter Pan” kann­ten, ist die weit grö­ßere Über­ra­schung dann aber die Geschichte selbst. Das lus­tige Aben­teuer mit den drol­lig-süßen Figu­ren, das die ewige Kind­heit ver­klärt, ist in Wahr­heit eine abgrün­dige und viel­schich­tige Erzäh­lung, die nicht spart mit düs­te­ren Andeu­tun­gen und blu­ti­gen Epi­so­den. Peter Pan ler­nen wir zwar auch als pfif­fi­ges Kerl­chen ken­nen, über­schat­tet wird der Cha­rak­ter aber durch sein ego­is­ti­sches, selbst­ver­lieb­tes, her­ri­sches und ange­be­ri­sches Wesen. Wenn ihm ein Coup gelun­gen ist, kräht er vor Vergnügen.

Zu Beginn des Buches erscheint Peter sogar als eine Art Todes­en­gel. An einer Stelle heißt es, er begleite gestor­bene Kin­der auf ihrem letz­ten Weg, an einer ande­ren, seine „ver­lo­re­nen Jungs” seien aus dem Kin­der­wa­gen gefal­len. „Wenn sie nach einer Woche nicht abge­holt wer­den, dann wer­den sie kos­ten­los ins Nim­mer­land geschickt.”

Schwer erträg­lich zumin­dest aus heu­ti­ger Sicht ist zudem, wie skru­pel­los Wendy im Nim­mer­land von den Jun­gen aus­ge­nutzt wird – und wie sehr sie den­noch in ihrer Rolle als Ersatz­mut­ter für die Kin­der dort auf­geht. Sie kocht, putzt und stopft wie selbst­ver­ständ­lich Strümpfe bis zur Erschöp­fung. Ein grau­si­ges Frauenbild!

Ande­rer­seits steckt im Buch auch deut­li­che Kri­tik am Patri­ar­chat. Schlech­ter als der Vater von Wendy, John und Michael kann man kaum weg­kom­men. Mr Dar­ling rech­net knau­se­rig durch, ob man sich neue Klei­dung für die Kin­der leis­ten kann, obwohl die Fami­lie offen­sicht­lich ziem­lich wohl­ha­bend ist. Er führt sich auf wie ein jäh­zor­ni­ges Kind, als Michael seine Medi­zin nicht neh­men will. Und weil es sei­ner Ansicht nach zieht, befiehlt er das Fens­ter zu schlie­ßen, das Mrs Dar­ling immer offen lässt, damit Wendy und ihre Brü­der jeder­zeit aus Nim­mer­land zur Fami­lie heim­keh­ren können.

Zum Glück jedoch ist Mrs Dar­ling die eigent­lich starke Per­son im Haus­halt und setzt sich durch. Ebenso wie Wendy schließ­lich die Kin­der gegen den Wil­len von Peter Pan zurück ins echte Leben führt, wo sie zu selbst­be­stimm­ten Erwach­se­nen rei­fen können.

Das Schöne an die­sem Buch: Bar­rie spen­diert sei­nen Figu­ren eine wohl­tu­ende Mehr­schich­tig­keit. Sogar der fins­tere Pira­ten­ka­pi­tän Hook bekommt seine wei­chen Sei­ten. Und es gelingt Bar­rie, die tiefe Ernst­haf­tig­keit, die der Erzäh­lung zugrunde liegt, durch fei­nen Humor zu über­zu­ckern. Das ist fast noch groß­ar­ti­ger als die unglaub­lich phan­tas­ti­schen Aben­teuer, die Peter Pan und seine Bande in Nim­mer­land mit Pira­ten und India­nern erleben.


Von: J. M. Bar­rie, illus­triert von Mina­Lima, über­setzt von Bernd Wilms
Ver­lag: Coppenrath
Jugend­buch ab 12 Jahren
ISBN: 978–3649623069
Gebun­dene Aus­gabe: 256 Seiten
Categories: ab 12 Jahren
Matti Hartmann: Matti Hartmann ist im Hauptberuf freier Journalist und nebenher Vater von drei Kindern. Oder andersherum. Außerdem Bücherfreund. Und weil sich das alles prima unter einen Hut bringen lässt, wenn man eine Kinderbuchseite betreibt, macht er genau das auch noch.
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