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Das Mädchen in Rot

Wie diese Bil­der leuch­ten! Ein klei­nes Mäd­chen in Rot durch­quert den Dunst der Groß­stadt, läuft durch Smog und Regen. Vor­bei an Stra­ßen­künst­lern, gries­grä­mi­gen Ein­käu­fern, Graf­fiti. Und über­all zwi­schen dem grauen Beton strah­len Neon­re­kla­men und schreien bunte Plakate.

Der ita­lie­ni­sche Illus­tra­tor Roberto Inno­centi hat das Mär­chen von Rot­käpp­chen vom Wald in eine Stadt ver­la­gert. Das mär­chen­hafte „Es war ein­mal…” ver­steht er als „zau­ber­haf­ten Schlüs­sel, um zu jedem Ort und in jede Zeit zu wan­dern”. In die­sem Fall in den Moloch einer moder­nen Metro­pole. Inno­centi: „Diese Inter­pre­ta­tion hat sich von selbst auf­ge­drängt, als ich daran dachte, dass es heute für ein Mäd­chen sehr viel gefähr­li­cher ist, eine Vor­stadt zu durch­que­ren als einen Wald.”

Das ist nicht die ein­zige Über­tra­gung, die Inno­centi vor­nimmt. Als Sophia, das Mäd­chen in Rot, vom Weg zur Groß­mutter abkommt und in einer düs­te­ren Sei­ten­gasse von Halb­star­ken bedrängt wird, begeg­net sie kei­nem wil­den Tier, son­dern einem Typen in schwar­zer Leder­kluft, der Sophia wie der Ret­ter in der Not erschei­nen muss, als er die Schur­ken mit läs­si­ger Geste verscheucht.

Mit die­ser Dar­stel­lung ist Inno­centi ziem­lich dicht an der Rot­käpp­chen-Inter­pre­ta­tion von Charles Per­rault, der das alte euro­päi­sche Volks­mär­chen Ende des 17. Jahr­hun­derts als einer der ers­ten nie­der­schrieb. In sei­ner mora­li­schen Ein­ord­nung am Schluss heißt es: „Es gibt da ver­schie­dene Arten von Wöl­fen. Da gibt es sol­che, die auf char­mante, ruhige, höf­li­che, beschei­dene, gefäl­lige und herz­li­che Art jun­gen Frauen zu Hause und auf der Straße hin­ter­her­lau­fen. Und unglück­se­li­ger­weise sind es gerade diese Wölfe, wel­che die gefähr­lichs­ten von allen sind.”

Roberto Inno­centi hat aus dem Stoff ein unheim­lich schau­ri­ges Mär­chen gemacht, das nur nicht trau­rig endet, weil es eben ein Mär­chen ist: „Wisst ihr noch, wie das mit den Geschich­ten ist?”, fragt das stri­ckende Groß­müt­ter­chen, das in der Rah­men­hand­lung die Erzäh­le­rin dar­stellt, als die gesamte Zuhö­rer­schaft schon in Trä­nen auf­ge­löst ist. „Geschich­ten sind magisch. Wer sagt, dass sie nur ein Ende haben können?”

Und so bekommt das lehr­rei­che Mär­chen noch einen zwei­ten Schluss. Die­ses Mal ein Happy End – mit Poli­zei­ein­satz und Fern­seh­re­por­tage vom Tatort.

Inno­centi hat ein Händ­chen dafür, seine Leser­schaft zu spal­ten. Sein Holo­caust-Bil­der­buch „Rosa Weiss” (1986) führte zu einer Debatte, wie viel Rea­li­tät Kin­dern zuge­mu­tet wer­den kann. Beim „Mäd­chen in Rot” ist das ähn­lich. Kom­men­ta­to­ren im Inter­net nen­nen es „unan­ge­mes­sen”, „ekel­haft”, „ver­stö­rend” oder „krank”. Aber wer sei­nen Kin­dern mehr als nur schmutz­lose Heile-Welt-Illu­sio­nen zutraut, der bekommt ein her­aus­ra­gen­des Buch, anrüh­rend und packend erzählt, detail­reich illus­triert und mon­tiert wie das Sto­ry­board eines ganz gro­ßen Kino­films. Dra­ma­tisch gute Kunst!


Von: Robert Inno­centi (Idee und Bil­der), Text von Aaron Frisch, aus dem Eng­li­schen über­setzt von Ulli und Her­bert Günther
Ver­lag: Gerstenberg
Bil­der­buch ab etwa 5 Jahren
ISBN: 978–3836957427
Gebun­dene Aus­gabe: 32 Seiten
For­mat: 29,2 x 26,8 x 1 cm
Categories: ab 5 Jahren
Matti Hartmann: Matti Hartmann ist im Hauptberuf freier Journalist und nebenher Vater von drei Kindern. Oder andersherum. Außerdem Bücherfreund. Und weil sich das alles prima unter einen Hut bringen lässt, wenn man eine Kinderbuchseite betreibt, macht er genau das auch noch.
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