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Die Regeln des Sommers

Nie die Regeln ver­let­zen. Schon gar nicht, wenn du sie nicht verstehst.”

Was für ein unheim­li­ches Buch! Shaun Tans „Die Regeln des Som­mers” führt tief in eine magi­sche Welt, die bevöl­kert ist von Mons­tern und selt­sa­men Maschi­nen­we­sen. Die Ölbil­der des aus­tra­li­schen Künst­lers sind kraft­voll, inten­siv und von düs­te­rer Atmo­sphäre. Wie soll man das alles nur begrei­fen, mag man sich als Erwach­se­ner fragen. 

Das Buch ist aus der Per­spek­tive eines klei­nen Jun­gen geschrie­ben: Sein gro­ßer Bru­der bestimmt in der Hitze des Som­mers die Regeln, jede Dop­pel­seite eine neue. Und er selbst ver­letzt – aus Unwis­sen­heit, Unver­mö­gen oder Unbe­dacht­heit – jede Dop­pel­seite die nächste.

Zur ers­ten Regel („Nie eine rote Socke auf der Wäsche­leine hän­gen las­sen”) zeigt Tan einen kar­gen Hin­ter­hof, triste Mau­ern, eine ein­fa­che Hütte, einen gro­ßen Was­ser­tank, eine alt­mo­di­sche Wäsche­leine mit einer ein­zi­gen, ver­ges­se­nen Socke daran. An der Mauer kau­ern die Brü­der. Der ältere hält dem jün­ge­ren den Mund zu, eine Krähe beob­ach­tet die Sze­ne­rie. Und hin­ter der Mauer lau­ert ein rie­si­ges, rotes Kanin­chen mit glü­hen­den Augen. Der Blick ist so feu­rig wie die gna­den­los bren­nende Sonne. Unheim­lich und ang­st­ein­flö­ßend. Die bei­den Jun­gen sind win­zig klein dagegen. 

Das ist das Prin­zip des Buches: Einem ebenso simp­len wie (oft) sinn­lo­sen Lehr­satz steht ein Bild gegen­über, das ver­stört. Auf die Ver­let­zung absur­der Regeln fol­gen dras­ti­sche Kon­se­quen­zen. Dabei wan­delt sich der große Bru­der immer mehr vom gut­mei­nen­den Beschüt­zer zum gna­den­lo­sen Bestrafer. Und dann, als der kleine Bru­der, zig­fach gede­mü­tigt und ver­letzt, sich schließ­lich auf­lehnt und nach dem Grund für alle Regeln fragt, eska­liert die Situa­tion vollends. 

Die Jury des Deut­schen Jugend­li­te­ra­tur­prei­ses hat Shaun Tans „Die Regeln des Som­mers” 2015 in der Kate­go­rie „Bil­der­buch” nomi­niert, weil es „auf Augen­höhe ist mit künst­le­ri­scher Male­rei und eine Kind­heit viele Jahre beglei­ten kann”.

Die Regeln des Som­mers” ist kein Buch für schwa­che Gemü­ter. Wer sei­nen Kin­dern ein ästhe­tisch anspruchs­vol­les Werk zutraut, das ihre all­täg­li­chen Macht­kämpfe unter­ein­an­der in einer mys­ti­schen Umge­bung dar­stellt (die für Kin­der übri­gens weni­ger befremd­lich ist als für Erwach­sene, weil sie eine rät­sel­hafte Welt ohne­hin gewohnt sind), der kann sich über ein Buch freuen, das nach und nach immer mehr Facet­ten offen­bart. In jedem Bild lie­gen Mehr­deu­tig­kei­ten, alles lässt sich auch anders inter­pre­tie­ren, über so vie­les kann man immer wie­der neu stau­nen, über vie­les auch lachen. Und wer jetzt Angst vor zu vie­len geheim­nis­vol­len und düs­te­ren Sze­nen hat und gerne wenigs­tens irgend­ei­nen Anker hätte: Am Schluss war­tet ein ver­söhn­li­cher Aus­gang. Denn auch wenn große Brü­der oft gemein und unver­ständ­lich sind – es sind Brü­der. Und die Liebe siegt. 


Von: Shaun Tan, über­setzt von Eike Schönfeld
Ver­lag: Aladin
Bil­der­buch ab 6 Jahren
ISBN: 978–3848900107
Gebun­dene Aus­gabe: 48 Seiten
For­mat: 18,1 x 1,2 x 30,7 cm 

 


Categories: ab 6 Jahren
Matti Hartmann: Matti Hartmann ist im Hauptberuf freier Journalist und nebenher Vater von drei Kindern. Oder andersherum. Außerdem Bücherfreund. Und weil sich das alles prima unter einen Hut bringen lässt, wenn man eine Kinderbuchseite betreibt, macht er genau das auch noch.
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